Samstag, 23. Oktober 2010

Eine Frau

Eine Frau Anfang fünfzig
Ring am Finger Falten im Gesicht
Verzweifelt um Haltung bemüht
Stumpfer Glanz in den Augen
Keine Frage sie hat mehrfach im Leben den Schrecken umarmt
Ohne den aufrechten Gang verlernt zu haben
Sie bestellt ein Kotelett und ein Glas Wein
Sie bekommt nicht was sie will
(niemand bekommt das)
Sie sieht den Kellner mit der Elster plaudern
(die beiden machen glänzende Geschäfte miteinander)
Die Frau isst das Kotelett und trinkt den Wein
(auch so eine Sache die man genauso gut allein tun kann denkt sie)
Sie denkt an den Sommer in dem sie ihren ersten Schneemann gebaut hat
Sie denkt darüber nach als wäre diese Sache etwas das sich wiederholen lässt
Als wäre das Nachdenken ein Wiederholen von etwas das verloren war bevor es geschah
Sie hat eine Schwäche für diese Dinge die zu Ende sind
Bevor sie angefangen haben
Diese Geschichten ohne Mitte
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Freitag, 22. Oktober 2010

Wolkenkuckucksheim

Er stocherte in seiner Fischsuppe
Der Kuckuck verschluckte sich
(das passierte ihm zu jeder vollen Stunde)
Das Telefon klingelte vor dem Fenster
(es wollte wieder hereingelassen werden,
falls der Hecht anrief. Jemand sollte den Hörer abnehmen,
wenn der Hecht anrief)
Er zog die Gardinen zu.
Ich sollte mal wieder vor die Tür gehen,
dachte er.
Dem Lauf der Welt neuen Anschwung geben
Und die Telefone von den Bäumen pflücken
Hof halten
Auf dem Marktplatz stehen
Das Schweigen tauschen
Dem Unglück hinterher schnüffeln
Und schließlich einen Einfaltspinsel kaufen
Um die Zwischenräume auszumalen
Ohne mich an der Fischsuppe zu verschlucken
Wie der Kuckuck, der endlich heimkehrt
Ins Wolkenkuckucksheim
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Mittwoch, 20. Oktober 2010

Valeria Narbikova

„Die Nacht ist wie die Nacht, und es ist offensichtlich, dass alles Licht und Schatten war und alles Licht und Schatten sein wird und sich alles nur zeitweilig in einem falschen Verhältnis befindet: die Bäume zum Eisen, die Züge zum Lastwagen, die Männer zur Frau.“
(Valeria Narbikova „Das Gleichgewicht des Lichts der Tages- und der Nachtsterne“)
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Dienstag, 19. Oktober 2010

Harriet Köhler

Es sind viel weniger Stühle aufgestellt, als bei Alissa Walser, aber immerhin werden vor der Tür keine Flugblätter gegen sie verteilt.
Ich habe Ostersonntag gelesen, „Und dann dieses Stille“, das Buch, das sie heute vorstellen wird, nicht.
Als ich damals Ostersonntag gelesen habe, bin ich neugierig gewesen, wohlwollend, dann nur noch enttäuscht. Ein intelligentes Buch, habe ich gedacht, klug konstruiert, geschickt gebaut. Jeder Satz wohl überlegt, aber kein Funke, der überspringt. Eine Aussage, aber kein Gefühl.
Später, nach der Lesung, wird Frau Köhler Blumen bekommen, der Strauß steht schon wartend in der Ecke. Ein kleiner Strauß mit gelben Blüten. Dass sie ihn verdient haben wird, weil sie sehr gut gelesen hat, weil man gemerkt hat, dass sie sich mit dem Geschriebenen verbunden hat, weiß ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Vor mir sitzen zwei dunkelhaarige Frauen, Mutter und Tochter. Ich bewundere die silbernen Fäden im Haar der Mutter. Da ist so ein Glitzern und Funkeln. Ein Glanz, der gar nicht in dieses Haar zu gehören scheint, auf diesen Kopf. Verloren, verirrt und vielleicht ist es gerade das, was diese irrlichternde Strähne so schön macht.

Dann kommt Harriet Köhler, sie ist blass und jung und aufgeregt. Ihre Hände zittern ein bisschen, als sie sich Wasser in ihr Glas schüttet. Sie erzählt kurz, dass es sich bei ihrem Roman um die Geschichte von drei Männern handelt, Walter, Jürgen und Nicki und dann beginnt sie zu lesen. Und ich bin erleichtert, denn diesmal klingt alles viel zärtlicher, sinnlicher. Was aber auch daran liegen kann, dass sie es vorliest, denn sie liest sehr gut.
Da sind Stellen, die mich durchaus berühren. Stellen, an denen man sonst wegsieht, über die man nicht schnell genug hinweggehen kann im Alltag, Fragen wie die, wie es ist, wenn die Eltern krank werden, wenn sie sterben. Wenn das, woher man selbst kommt, verschwindet.
Später, im Gespräch, erzählt sie von einem handlungsleitenden Interesse. Sie habe herausfinden wollen, wie lange der Krieg nachwirkt, wie sich das Trauma fortpflanzt von Generation zu Generation. Die drei Männer von denen ihr Roman handelt, seien eine Versuchsanordnung gewesen, um herauszubekommen, welche Rolle das Schweigen spielt.
Ich werde das Buch nicht lesen, aber der Abend war schön.
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Montag, 18. Oktober 2010

Der Versuch einer Poetologie

Vielleicht so: eine Frage genau so weit beantworten, bis sie sich von selbst wieder in Frage stellt.
Die Antwort verankern, aber nicht zu fest. Wozu denn Fragen, wenn man nicht an Antworten glauben kann? Aber wenn die Antworten unumstößlich sind, woher kommen dann die Fragen? Wo gehen sie hin? Und immer wieder diese Bedeutung von Wert. Dass alles seinen Preis hat, dass das der Wert ist, der Preis., den du zu zahlen bereit bist? Ehrlich sein, aber nicht rücksichtslos.
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Sonntag, 17. Oktober 2010

...

Draußen war es grau. Drinnen waren diese Erinnerungen. Sie waren nicht willkommen. Sie waren auf dem Weg zu verschwinden, d.h. sie waren treue Begleiter. Lebenslang.
Zu den Erinnerungen trat dieser Satz. Nicht um sie auszulöschen, nicht einmal um sie zurückzudrängen. Um ihnen Gesellschaft zu leisten, damit sie sich wohl fühlten vielleicht. Der Satz kam aus einem Buch. Ich hatte ihn arglos gelesen, wie die meisten Sätze, die ich sofort vergaß. Besonders die, die ich mir merken wollte, weil ich mir etwas davon versprach, worüber ich später nachdenken wollte.
Dieser Satz blieb. Er handelte von der Vorstellung, tot zu sein. Davon, dass tot zu sein nicht bedeutet: die Welt ohne mich, sondern: ich ohne die Welt (und der Satz stand in einem Buch, das Olga Martynova geschrieben hat. Ein poetisches Buch, in dem trotzdem Taschentelefone und Emails und Weblogs vorkommen und das ich schon aufgrund dieser Tatsache erstaunlich fand)
Der Satz, den die Martynova losgeworden war, indem sie ihm einem „schlafwandlerisch und nie ganz nachvollziehbar“ redenden Maler angedichtet hatte, war nun also bei mir eingezogen und fühlte sich offenbar sehr wohl bei meinen gastfreundlichen Erinnerungen. Es fühlte sich so wohl, dass es hemmungslos Fragen stellte. Mir Fragen stellte. Die Erinnerungen sahen darüber hinweg. Weil sie über alles erhaben waren.
Wie das gehen sollte, die Welt ohne mich in meiner Vorstellung. Die Welt ohne meine Vorstellung. Die Erinnerung bedrängten solche Fragen nicht. Mich schon.
Dann kam der Alltag, der ging einfach weiter, ganz ohne meine Vorstellung und nachts kam der Traum. Ich hatte von Flohmärkten geträumt und vom Tod. Der Tod ein Tauschgeschäft, das auf einem Flohmarkt abgewickelt wird. Und das Leben ist vielleicht etwas ganz ähnliches.
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Donnerstag, 14. Oktober 2010

...

Bedrängt von der Ahnungslosigkeit
Machen wir große Worte um nichts
Worte um der Worte willen
Worte um der Wirkung willen
Durchsichtig wie Glas
Aber nicht zerbrechlich
(alles was wahr ist, ist zerbrechlich)
Wie kann man so lange schweigen
und so viele Worte darum machen
Ich glaube an die Sonne
Aber ich schreibe vom Mond
Ich habe keinen Führerschein
Und schreibe wie ich endlose Kilometer unter mir begrabe
Sie fresse
ohne irgendetwas zu sehen
außer deinem Schweigen
mit dem du der Wahrheit ins Gesicht lügst
Natürlich kann man schweigend nicht lügen
Nur verleumden
Aber das kann man mit vielen glänzenden Worten auch
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Mittwoch, 13. Oktober 2010

Die kurze Geschichte eines langen Lebens

197

Meine Schwester bestand auf Licht
Sagt Sansibar
Die Dunkelheit knipste etwas an
In ihrem Kopf
Vielleicht meinten die Erwachsenen das
Wenn sie behaupteten
Die Wahrheit liegt im Dunkeln
Vielleicht hatte sie deshalb solche Angst
Angst vor der Dunkelheit
Und Gott hatte auch Angst gehabt
Vor der Dunkelheit
Und sie deshalb von allem anderen getrennt
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