Rezensionen

Montag, 28. März 2011

Der Liebhaber – Marguerite Duras


Ich habe die ersten dreißig Seiten gelesen. Noch geht es nur am Rande um den Liebhaber, noch läuft alles was erzählt wird auf ihn zu, ohne ihn zu erreichen, noch geht es um die Grundlagen, um den Hintergrund, der alles ermöglicht, die Geschehnisse und das Erzählen und ich frage mich, ob ich jemals eine Mutter gehabt habe, wenn ich nicht die Kraft habe, mir eine Mutter zu erfinden, die mir so nahe kommen könnte, wie die verschwendete Leblosigkeit, die Marguerite Duras für ihre Mutter erfindet, diesen Mut, sich so sehr selbst in die Lüge zu legen, bis die Lüge wahr wird, oder diejenige, die sie aufschreibt auslöscht mit der Behauptung, selbst eine Lüge zu sein.
Es ist diese Erkenntnis, dass man grausam sein muss, um die Wahrheit aufzuschreiben. Grausam zu sich selbst, oder zu anderen, das spielt keine Rolle. Das darf keine Rolle spielen. Eine Art Rückhaltlosigkeit, die die Grausamkeit in Kauf nimmt, das ist es, worauf es ankommt. Und die Grausamkeit besteht darin, zu keinem Zeitpunkt zu vergessen, dass allein man selbst es ist, auf die es ankommt, beim Lieben, beim Schreiben, beim Erinnern und Hassen. Diese Wahrheit keinen Moment lang aus den Augen zu verlieren.
In den Büchern der Duras spürt man das in jedem Satz. Das macht sie so schrecklich. Und so schön.
Die Figuren werden monströs, weil sie verstanden werden wollen, um so mehr je weniger es möglich ist, merkt jemand in einem Bericht über Thomas Bernhard über seine Protagonisten an. Maguerite Duras geht einen Schritt weiter. Sie gibt nicht nur zu, nicht zu verstehen, sie setzt dem unmöglichen Verstehen den Blick einer sich selbst ausgesetzten Einsamkeit entgegen.
Dieses Buch, wie alle Bücher der Duras, ist voller kleiner weitreichender Wunder. „Er entschuldigte sich voller Stolz.“ Ein Satz der mühelos das Widersprüchliche in jedem Menschen vereint, wie einer Mitgefühl haben kann und trotzdem zu sich selbst steht. Nicht, um seinerseits um Verständnis zu werben, nicht um um Nachsicht zu betteln, um etwas in Worten ungeschehen zu machen, das in Taten längst umunkehrbar ist, sondern um zu sagen: Ich sehe dich, ich nehme dich wahr, aber auch den Abgrund, der uns trennt, ich akzeptiere den Schmerz, den diese Entfernung verursacht, aber ich halte stand und bleibe bestehen, bei mir, auf meiner Seite, nicht blind, nicht ignorant, aber standhaft. Auf diese Art zugewandt.
Die Armut, die alles verwahrlosen lässt. Die Liebe, die da ist, aber keinen Weg findet. Selbst nicht an ihre Heilkraft glaubt, das ist mir schon in dem allerersten Buch begegnet, mit dem Maguerite Duras mich getroffen hat, in „Sommerregen“. Und ich habe sofort gewusst, dass hier etwas Unvergleichliches geschieht, dass mich ihre Bücher von nun an begleiten würden und das war trotz der Härte, der Hoffnungslosigkeit, die sie immer wieder beschreibt, ein Trost, weil sie es versteht dem Ganzen, ohne der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, ohne irgendwelche Abstriche zu machen, etwas entgegenzusetzen, etwas das über die Sprache hinausgeht und über das Denken, etwas wofür ich keinen Namen finde.

„Er weint oft, weil er nicht die Kraft aufbringt, über die Angst hinaus zu lieben.“
Noch einer von den Sätzen, die mich mit voller Wucht treffen, weil sie zutreffen. Mehr als mich zu lieben fürchtete meine Mutter, ich würde sie nicht genug lieben. Und nun wiederholt sich alles mit mir, weil ich es nicht anders gelernt habe, weil ich nicht die Kraft habe, dazu zu lernen.

Ich werde es aufschreiben, wird Marguerite Duras sich gesagt haben, das ist die einzige Möglichkeit, nicht mit allem unterzugehen. Und das ist der Unterschied zu den meisten, nur mittelmäßigen, nur handwerklich meisterhaften, Büchern, dass hier von Anfang an jemand spricht, weil es die einzige Möglichkeit ist, zu überleben. Nicht weil er gehört werden will, und ich nehme mir das Recht, so etwas zu behaupten, ohne etwas über die Frau Marguerite Duras zu wissen, was sie nicht selbst in die Bücher, die ich bis jetzt von ihr gelesen habe, geschrieben hat, weil es die einzige mögliche Art für mich ist, ihre Sätze zu lesen. Ich habe keine Wahl. Es ist so natürlich und notwendig, wie immer wieder Atem zu holen.
Oder Sätze wie dieser: „Seinetwegen will meine Mutter am Leben bleiben, damit er zu essen hat, damit er im Warmen schläft, damit ihn jemand beim Namen ruft.“ So klar sind ihre Sätze, so einfach und weitreichend und abgründig.
Die Mutter bleibt am Leben, damit jemand den Bruder beim Namen ruft, während er, der Liebhaber, nie beim Namen genannt wird. Er ist der Mann aus Cholen.
Und trotzdem jemand, an dem sie die eigene Unwissenheit entdecken kann. Das ist diese Art wahrhaftiger, schmerzhafter und aufrichtiger Poesie. Marguerite Duras schreibt über den Mann, den sie nie bei seinem Namen nennt, den sie nur den Mann aus Cholen nennt, oder den Liebhaber: „Vielleicht entdeckt er“, schreibt sie, „daß sie noch nie miteinander gesprochen haben, außer wenn sie sich riefen in den Schreien im Zimmer am Abend. Ja, ich glaube, er wußte es nicht, er entdeckt, daß er es nicht wußte.“
„Ohne Bosheit und von erschreckender Intelligenz“, so beschreibt der Liebhaber den Körper seiner kindlichen Geliebten und damit Marguerite Duras Art zu schreiben.
Und hier: „Sie besitzt diese unvergleichliche Aufmerksamkeit von Menschen, die nicht hören, was man zu ihnen sagt.“
Da liegen sie, ganz offen, die Schlüsselsätze, die erklären, wodurch sich manche Leben von anderen trennen. „Ihrer beider (gemeint sind H.L., die Mitschülerin im Pensionat auf die sich auch der vorherige Satz bezieht, und der Mann von Cholen) Leben scheint erfüllt zu sein, erfüllt durch Dinge, die außerhalb ihrer selbst liegen.“ „Bei mir scheint es nichts dergleichen zu geben, (...) Ich glaube, daß mein Leben begonnen hat, sich mir zu zeigen.“
Oder vielleicht auch das: „Man müßte die Leute von diesen Dingen in Kenntnis setzen. Ihnen beibringen, daß die Unsterblichkeit sterblich ist, daß sie sterben kann, daß dies vorgekommen ist, daß dies weiterhin vorkommen wird.“
Alles wird sterblich, wenn man beginnt zu erkennen, es zuzulassen, dass das eigene Leben beginnt, sich zu zeigen. Und wer das lieber vermeiden möchte, sollte die Finger von den Büchern lassen, die Marguerite Duras geschrieben hat, denn sie ist keine, die einhüllt, sondern eine die aufdeckt, die die Dinge beim Namen nennt, sei es die Liebe, sei es der Tod. Sie ist grausam aufrichtig und das ist der einzige Trost. Aber was für einer!
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Mittwoch, 9. Februar 2011

Das Buch von Blanche und Marie – Per Olov Enquist

Blanche schreibt ein gelbes, ein schwarzes und ein rotes Buch, Fragebücher auf der Suche nach dem Wesen der Liebe. Getrieben von der Hoffnung, Antworten zu finden, die beweisen, dass die Liebe alles überwindet.
Marie schreibt Geschichte, weil sie dem blauen Licht folgt. Sie findet, gemeinsam mit ihrem Mann Pierre, die Radioaktivität und nach dessen Tod Radium. Und schließlich eine Liebe, die sie fast zerstört, lange bevor das Radium dieses Werk vollendet.
Per Olov Enquist schreibt das Buch von Blanche und Marie, die dem Licht folgten. Dem blauen und dem der Liebe. „Amor Omnia Vincit“. Das ist die Arbeitshypothese, die Enquist anwendet, um alles zusammenzufügen, um einen Sinn zu finden, die Teile ganz werden zu lassen. Vom Torso ausgehend, die amputierten Teile zurückzuholen, um wenigstens rückblickend ein heiles Ganzes zu schaffen. Und um am Schluss vielleicht zu verstehen.

Blanche und Charcot, Marie und Paul, Blanche und Marie. Die Dinge wiederholen sich, die Geschichte ist immer dieselbe, eine von Leben und Tod und all den Fragen dazwischen. Auf die Antworten gesucht werden, bis nur noch ein Sarg da ist, und eine Hand auf dem Sargdeckel. Und der Satz: Ich weiche nie von deiner Seite.
Das ist der Ausgangspunkt: Blanche Fragebücher und Maries Geschichte. Und die Geschichte des Lichts und der Amputationen. Und wie alles zusammenhängt.
„Zu erklären versuchen, was man versteht, geht nicht,“ schreibt Enquist. Aber als kommentierender, manchmal mit zynischer Distanz scheinbar über den Dingen stehender Erzähler, Aussagen formulieren und dann über jedes einzelne Wort nachdenken, geht sehr gut.
Rein technisch nutzt Enquist mit seinem kommentierenden Erzähler die Möglichkeit, das Verbotene zu tun (sich wie Blanche und Marie über die Regeln der Zeit und Zunft hinweg zu setzen). Er interpretiert seine Sätze, er erläutert sie. Er denkt über seine Figuren nach, stellt sich Fragen über sie und ihre Motive. Nicht hinter den Kulissen, sondern vor den Augen seiner Leser.
Enquist gelingt es durch systematisches Aneinanderreihen scheinbar unzusammenhängender Aussagen und wechselnde Perspektiven, eine einheitliche Geschichte zu erzählen. Zitate aus Blanche Fragebuch (das es wirklich gegeben hat, dessen Zitate jedoch ausschließlich von Enquist erdacht sind) folgen auf eine Geschichte von Marie und Charcot, immer wieder gebrochen durch die Kommentare Enquists. Was entsteht ist eine Geschichte, die vielleicht wahrer ist als die historischen Fakten.
„Legt man alle Geschichten übereinander, wird am Ende alles unsichtbar. Also muss man wählen“, schreibt Enquist. Und zeigt, wie man wählen kann, die Geschichten übereinander zu legen. Indem man den Geschichten den selben Kern zugrunde legt, sie am gleichen Faden aufreiht. Die Amputationen als körperliches Bild bei Charcots Bruder, bei Blanche, die, als sie die Fragebücher schreibt, nur noch ein einarmiger Torso ist, bei Marie, der schließlich innere Organe entfernt werden müssen, und darüber hinaus metaphorisch, als die Amputationen, die aus der ureigenen Geschichte jedes Menschen erwachsen und die zuweilen dazu führen, dass eine große Liebe nicht gelebt wird, dass zwei Menschen das Dunkel erst spät (zu spät?) miteinander teilen.
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Sonntag, 6. Februar 2011

Sogar Papagien überleben uns

Sogar Papageien überleben uns

„Die Alten scherzen und lachen und machen sich lustig übereinander. Die jungen Autoren sind ernst und höflich. Und ich bin zwischen „alt“ und „jung“ und weiß nicht, ob ich noch ernst sein darf oder schon scherzen muss.“ Diese Worte schenkt die Lyrikerin und Essayistin Olga Martynova ihrer Heldin Marina in ihrem ersten Roman mit dem Titel: „Sogar Papageien überleben uns“. Vielleicht ist dieses Alter zwischen jung und alt das beste Alter, um so ein Buch zu schreiben. Ein Buch zwischen Ernst und Heiterkeit, über das Wesen der Zeit und ein Jahrhundert in dem Menschen einiges angestellt haben, das die Zeit nicht vergessen machen kann. An das die Erinnerung in unterschiedlicher Weise heranreicht, zwischen Vergessen und Beschwören, zwischen Abgeklärtheit und Sentimentalität.

Vor zwanzig Jahren waren sie ein Paar, der Deutsche Andreas und die Russin Marina. Sie haben sich niemals ganz aus den Augen verloren, aber jeweils andere Partner geheiratet und sich wieder scheiden lassen. Jetzt ist Marina in Deutschland, um im Rahmen eines Literaturfestivals über Daniil Charms und seinen Freundeskreis zu referieren. Andreas hat ihr einen Heiratsantrag gemacht, aber dann schweigt das Taschentelefon mehrere Tage lang. Marina widmet sich ihren Erinnerungen und den wenig fassbaren und eigentlich immer nur skizzierten Nebenfiguren, wie dem finsteren Dichter Fjodor und dem Maler Gregor, der sie fasziniert, wie sie „alle Menschen faszinieren, die leicht schlafwandlerisch und nicht ganz nachvollziehbar reden“.
Ein deutsch – russisches Verhältnis wird in diesem Buch beschrieben. Und das im weitesten Sinne des Wortes. Zwanzig Jahre Zeit- und Lebensgeschichte, wobei Martynova gekonnt zeigt, wie privat jede politische Umwälzung ist, wie sehr das politische das Private bestimmt, auch in diesen Zeiten, die wir „frei“ nennen und demokratisch. Am großartigsten aber ist, wie es der Autorin gelingt die Zeitlosigkeit des Geschehenen in Form seiner Allgegenwärtigkeit glaubhaft zu machen. Die Geschichte schwingt immer mit, nie aufdringlich, aber immer präsent, gewürzt mit den Gedichten Fjodors, mit der unterschwelligen Anwesenheit Charms und der Vögel, das sind die Pfeiler, die den Roman tragen, die Bäume um die die unfassbare Zeit herumfliegt. Die Zeit die in einem dreizeiligen Balken von Jahreszahlen von 5. Jhd. v.Chr. bis 2006 die Kapitelüberschriften schmücken, wobei diejenigen Jahreszahlen die Marinas Erinnerungen streifen, fett gedruckt sind. Eine zusätzliche optische Untermauerung dieses Romans. Die Idee dazu, erzählt die Autorin in einem Interview, sei ihr nachts gekommen, nachdem der Roman bereits fertig war.

Zum Ende des Buches fasst Fjodor, der grimmige Dichter, (der ebenso wie Olga Martynova nun Prosa schreibt) den Roman mit ein paar Sätzen zusammen, wenn er das Motto seines eigenen Romans, das wiederum von Wwednskij stammt vorstellt:
„In einem Roman wird das Leben beschrieben, da läuft angeblich die Zeit, aber sie hat nichts Gemeinsames mit der wirklichen Zeit, da gibt es keine Ablösung des Tages durch die Nacht, da entsinnt man sich spielerisch beinah des ganzes Lebens, während du dich in der Wirklichkeit kaum an den gestrigen Tag erinnern kannst. Und überhaupt: Jede Beschreibung ist falsch. Der Satz: ‚Ein Mensch sitzt, über seinem Kopf ist ein Schiff’, ist doch vielleicht richtiger als ‚Ein Mensch sitzt und liest ein Buch’. Der einzige seinem Prinzip nach richtige Roman ist der von mir. Aber er ist schlecht geschrieben.“
Dieses Buch ist ganz sicher nicht schlecht geschrieben. Höchstens schlecht beschrieben (von mir), weil sich diese „Komödie der Zeit“ (wie Jochen Jung das Buch in seiner Rezension für den Tagesspiegel nennt), diese Prosa, die sich dem Zeitfluss überlässt, bei keinem Thema stehen bleibt, ebenso wenig wie die Zeit.
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Donnerstag, 3. Februar 2011

In der Zugluft Europas von Olga Martynova

Lass sie uns vergessen
Die langen Nasen der Gegenwart
Was ist Vergangenheit
Und wie hebt man sie auf

In der Zugluft Europas stehen
Ohne fliegen zu können
Heißt auf Wunder zu warten
Auf eine Stimme die trägt


Das war die erste Reaktion. Die gefühlte, spontane, diejenige, die kein Nachdenken erforderte. Etwas das passierte nachdem ich Martynovas Gedicht in der Zugluft Europas gelesen hatte.
Danach kamen die Fragen.
Was ist eine Erzählung ohne Stimme? Eine Geschichte ohne Sprecher oder das Schweigen selbst? Eine Geschichte, die vorbeizieht (in der Zugluft), ohne erzählt zu werden?
Und wenn das der Fall ist, das eine oder das andere (und nicht noch ein Drittes eigentlich gemeint ist, dem ich nicht auf die Spur komme), warum findet sich kein Sprecher? Warum liegt die Geschichte im Stillen?
Um ohne Stimme erzählt zu werden, mit all den Stimmen der aufgetrennten Nähte?
So pflanzen sich die Fragen fort. Mit jeder möglichen Antwort, mit jeder möglichen Erklärung.
„Wir brauchen die Lösung nicht zu lesen“, schreibt Borges, „das Rätsel ist da.“
Das Rätsel, die Fragen sind das, was der Geschichte die Stimme verleiht. Das ist, was es so seltsam macht in der Zugluft Europas zu stehen.
„Die Spalten in diesem Raum dichtet niemand zu“, schreibt Olga Martynova. Und sie hält sich daran. Nichts dichtet sie zu. Sie öffnet Räume, sie öffnet Ohren für das Verschwiegene, das Unsagbare und das Schweigen selbst.
Solcherart hat ihr Gedicht (und ihre Dichtung allgemein) eine ganz besondere Stimme, die mehr tut als zu erzählen. Die das Erzählte in Frage stellt und sich dennoch behauptet. Der Zugluft ausgesetzt, aber nichts desto trotz standhaft.
Wir alle erzählen sie und doch keiner, die Geschichte, die keine Stimme hat. Jede Antwort ist ein Versuch. Der Versuch einer Stimme, die die Erzählung nicht hat. Die sie vielleicht abgegeben hat an das Gedicht. An das Gedicht und die Fragen, die es uns stellt.
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Montag, 27. Dezember 2010

...


Annuschka Blume

Er halte Lesen für eine der größten Glückseligkeiten, hat Jorge Luis Borges einmal geäußert, und natürlich kann man so eine Aussage anzweifeln, man kann sie genau so lange anzweifeln, bis man den Roman Annuschka Blume von Marjana Gaponenko in die Hand nimmt und darin zu lesen beginnt. Zu lesen? Sich darin zu verlieren, sich einfangen und verzaubern, kurz: sich glücklich machen lässt.
Aber versuchen wir sachlich zu bleiben und uns von den nüchternen Tatsachen auf den Boden der Realität zurückziehen zu lassen.
„Das wäre freilich nur wahr“, schreibt Piotr Michailowitsch von seinen Erfahrungen mit einer Troika, „wenn man sich an die Tatsachen hält. Aber wie albern wäre das denn?“

Trotzdem will ich mich kurz beschränken, dem Glück der maßlosen Phantasie entsagen und davon berichten, was in diesem Buch geschieht. Dieses Buch ist ein Briefroman, die Korrespondenz zwischen Anna Konstantionowna Annuschka Blume, die Lehrerin ist, in einem ukrainischen Dorf, wo sie ihre Schüler liebevoll aber nach durchaus sehr eigenen Prinzipien erzieht: „Je unglaubwürdiger die Tatsachen, je absurder der Inhalt, umso besser die Note. Zu einem schüchternen Kind sage ich immer: "Sieh zu, dass du Fehler machst, Kleines" und streichle ihm die Wange. Einem kleinen Intellekturellen mit dicken Brillengläsern sage ich: "Bloß keine harten Tatsachen, Freundchen, sonst bleibst du sitzen!"
Und Piotr Michailowitsch Sie berichtet Piotr Michailowitsch in ihren Briefen vom Dorfleben, von ihrer zusätzlichen Arbeit im Bergwerk, wie sie dem versoffenen Kusmitsch schließlich Wattestiefel kauft, damit er seinen lahmen Hund in einer selbst gebastelten Karre durch einen Winter schieben kann, in dem die Tränen umgehend auf dem Gesicht gefrieren, wenn man die Dummheit begeht, im Freien zu weinen, oder von Goriunowa ihrer einzigen Freundin
Piotr hingegen schreibt ihr von seinen Aufträgen als Visionär, wie er beweisen soll, dass die Steppe und die Berge das Gleiche sind und wie er in eine Burka gehüllt in Bagdad nach einer Möglichkeit sucht einen Meteor aufzuhalten, der auf die Erde zustürzt.
Aber das ist es nicht wirklich, das ist nicht wirklich der Inhalt, weil man ihn nüchtern nicht wiedergeben kann, weil es hier um einen Traum geht und was bleibt übrig von einem Traum, wenn man ihn erzählt?
Außer man heißt Marjana Gaponenko. Und dabei ist es ihr erster Roman. Was kann man da noch erhoffen.
Jedenfalls: nachdem man dieses Buch gelesen hat, weiß man selbst nicht mehr was der Unterschied ist, zwischen Bergen und Steppe, Männern und Frauen, Unglück und Glück. Nur an einen seltsam leeren und nüchternen Zustand kann man sich noch erinnern, an die Zeit bevor man dieses Buch gelesen hat. Also daran, wie albern man gewesen ist, als man sich noch an die Tatsachen gehalten hat.
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