Freitag, 4. Februar 2011

Erinnerungen zum Beispiel

Als hätte ich die Fäden aufgetrennt und falsch wieder zusammengefügt, sitze ich hier in diesem Raum unter dem Dach, links und rechts Schrägen, vorne das Fenster, hinter mir die Tür, und sehe diese Erinnerung: S. Zimmer unter dem Dach, drei Menschen, unverschämt jung, rührend hilflos verstrickt in ein Streitgespräch darüber, ob es Glück gibt, was Glück ist. Ernsthaft abwägend wie Zeichen zu deuten, Gefühle abzuwägen sind.
Drei Menschen, die der Traum nach und nach aus den Augen verloren hat.
Eine davon sitzt hier mit leeren Händen und dieser Erinnerung.
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Donnerstag, 3. Februar 2011

In der Zugluft Europas von Olga Martynova

Lass sie uns vergessen
Die langen Nasen der Gegenwart
Was ist Vergangenheit
Und wie hebt man sie auf

In der Zugluft Europas stehen
Ohne fliegen zu können
Heißt auf Wunder zu warten
Auf eine Stimme die trägt


Das war die erste Reaktion. Die gefühlte, spontane, diejenige, die kein Nachdenken erforderte. Etwas das passierte nachdem ich Martynovas Gedicht in der Zugluft Europas gelesen hatte.
Danach kamen die Fragen.
Was ist eine Erzählung ohne Stimme? Eine Geschichte ohne Sprecher oder das Schweigen selbst? Eine Geschichte, die vorbeizieht (in der Zugluft), ohne erzählt zu werden?
Und wenn das der Fall ist, das eine oder das andere (und nicht noch ein Drittes eigentlich gemeint ist, dem ich nicht auf die Spur komme), warum findet sich kein Sprecher? Warum liegt die Geschichte im Stillen?
Um ohne Stimme erzählt zu werden, mit all den Stimmen der aufgetrennten Nähte?
So pflanzen sich die Fragen fort. Mit jeder möglichen Antwort, mit jeder möglichen Erklärung.
„Wir brauchen die Lösung nicht zu lesen“, schreibt Borges, „das Rätsel ist da.“
Das Rätsel, die Fragen sind das, was der Geschichte die Stimme verleiht. Das ist, was es so seltsam macht in der Zugluft Europas zu stehen.
„Die Spalten in diesem Raum dichtet niemand zu“, schreibt Olga Martynova. Und sie hält sich daran. Nichts dichtet sie zu. Sie öffnet Räume, sie öffnet Ohren für das Verschwiegene, das Unsagbare und das Schweigen selbst.
Solcherart hat ihr Gedicht (und ihre Dichtung allgemein) eine ganz besondere Stimme, die mehr tut als zu erzählen. Die das Erzählte in Frage stellt und sich dennoch behauptet. Der Zugluft ausgesetzt, aber nichts desto trotz standhaft.
Wir alle erzählen sie und doch keiner, die Geschichte, die keine Stimme hat. Jede Antwort ist ein Versuch. Der Versuch einer Stimme, die die Erzählung nicht hat. Die sie vielleicht abgegeben hat an das Gedicht. An das Gedicht und die Fragen, die es uns stellt.
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Dienstag, 1. Februar 2011

...

„Kein Mensch schreibt heutzutage noch Briefe“, sagte Hanna und lachte. „Warum schreibst du keine SMS oder gehst an meinen Computer und schreibst eine Email?“
„Aber Hanna“, sagte Lisa, „das geht doch nicht. Manche Dinge kann man nur in Briefen sagen. Das musst du doch wissen. Man denkt doch ganz anders in einem Brief. Viel langsamer und gründlicher. Liebevoller vielleicht auch.“
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Samstag, 29. Januar 2011

Aus dem Gesicht geschnitten

Auf dem Tisch steht eine Schale mit Obst. Bananen, Äpfel und Mandarinen. Ich sehe nur das grelle Orange in der Mitte der Schale, das sanfte Gelb und das matte Grün nehme ich kaum wahr.
„Stell sie weg“, sage ich zu meiner Mutter.
Philipp steht links von mir, Georg rechts.
„Wenigstens die Mandarinen.“
„Aber er isst sie doch so gern“, sagt meine Mutter und wendet sich ab.
Sie stellt das Brot auf den Tisch.
Mutter geht ihrem Mann entgegen. Philipp steht hinter seinem Stuhl und Georg lässt die Tür nicht aus dem Blick. So ist es jeden Abend. Ich habe keine Geschwister, weil mein Vater keine Kinder hat, sondern zwei Söhne und mich.

Seine breiten, weißen Hände sind ständig in Bewegung. Selbst die Luft zum Atmen teilt er uns ein. Mit dem Messer in der Hand berichtet er von seinem Tag. Er liebt es, meine Brüder zu demütigen.
„Die Klientin hat mich an Georg erinnert. Dasselbe weiche blonde Haar und genauso weinerlich“, sagt Vater, „aber sie ist wenigstens eine Frau“, fügt er hinzu.
Georg schluckt. Seine Augen sind randvoll.
Mutter läuft vom Tisch in die Küche, füllt das Glas meines Vaters.
Ich suche die Tischplatte unter dem Tischtuch. An den Ecken, die von der Tischdecke nicht verhüllt werden und durch den dünnen Stoff hindurch. Ich kann durch das weiße Leinen die Struktur des Holzes erkennen und unsere Spuren. Philipps Zähne, die Kratzer meiner Feder, die Schramme von Georgs Lastwagen, der unbemerkt ein Rad verloren hatte.
Philipp hängt an den Lippen meines Vaters, wie ein Verurteilter, der die Augen nicht von der Schlinge lösen kann, in die der Henker seinen Kopf stecken wird.
„Na mein Großer“, wendet sich Vater an ihn, „du bist nicht wie dein Bruder. Aus dir wird einmal ein Mann. Nicht Manns genug eine Familie zu ernähren, aber zum Glück gibt es Frauen mit Geld. Vielleicht gelingt es dir, eine von ihnen zu heiraten.“
Nur ich sehe Philipps Knie zittern. Er wackelt ein paar Mal mit den Beinen, dann ist sein Gleichgewicht wieder hergestellt. Er schüttelt den Schmerz aus seinen Beinen. Philipp wird ihm ähnlich. Er wird Vater immer ähnlicher.
Ich bin Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.

Seine Hände liegen auf dem weißen Tischtuch. Er greift nach einer Mandarine.
Wie aus dem Gesicht geschnitten.
Ich habe seinen Namen bekommen. Meine Brüder haben eigene Namen. Ich bekam seinen Namen. Seinen Namen um einen einzigen Buchstaben verlängert.
Der Geruch der Mandarine entfaltet sich erst nach dem Verzehr vollständig. Dann nimmt Vater die Schale und sein Messer. Er ist nicht konzentriert bei der Arbeit. Das Ergebnis muss nicht perfekt sein. Er hat es eilig.
„Das ist Luise“, verkündet er. „Alles, was sie zwischen den Beinen hat, sind ein paar dünne weiße Fäden.“
Meine Brüder lachen laut, das Lächeln meiner Mutter ist still.
Ich bin ganz ruhig, denn ich habe meinen Vater in der Hand. Während er die Mandarine schälte und sorgsam ein geeignetes Stück Schale für seine Schnitzerei aussuchte, habe ich Brotstücke und Krümel geknetet, in meinen Händen eine gefügige Masse aus ihnen geformt. Und während er schnitzte und mir mit dem Messer Kontur verlieh, formte ich seinen Körper aus dieser weichen weißen Masse. Seine Arme, seine Beine, sein Geschlecht. Während alle lachen, über die weißen Fäden zwischen meinen Beinen, amputiere ich seine Arme, schneide ihm die Beine ab und kastriere ihn.

„Leg die Hände auf den Tisch, Luise“, sagt mein Vater, „und sieh mich an.“
Ich lächle ihm in seine blauen Augen und lecke mir einen Tropfen Blut von den Lippen.
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Mittwoch, 26. Januar 2011

Angst

Manchmal ist es schön in der virtuellen Welt, dann liest man einen klugen Artikel über die Angst , der sich auf ein Projekt mit dem Namen what are you afraid of bezieht, und beginnt sich seine eigenen Gedanken zu machen. Ich weiß nicht wovor ich Angst habe, dachte ich als ich mich das erste Mal mit der Frage beschäftigt habe, und jetzt suche ich nach Antworten. Die erste ist hier:

Irgendwann spürt man die Angst nicht mehr. Sie ist zu einer Art Verengung der Handlungs-, Denk- und Vorstellungsfähigkeit geworden, ein gut integrierter Teil meines Selbst, zu gut verwachsen mit dem Alltag, mit dem was ich dem Spiegel und den Mitmenschen präsentiere, um es selbst wahrzunehmen, geschweige denn begreifen zu können.

Und übrigens: Ihre Antworten würden mich auch interessieren.
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Freitag, 21. Januar 2011

Die Kosten der Jahre

So ist es wohl mit dem Älterwerden, dass man das Bittere zurücksehnt, die Zeit, die man mit Füßen getreten hat, anbetet zurückzukommen.
Und damit ist schon alles gesagt, aber wir müssen ja weitersprechen. Uns den Widersprüchen aussetzen, im handhabbaren Maßen zornig werden. Beleidigt auch, lächerlich ohnehin. Und unsere eingeborene Melancholie als Weisheit preisen. Koste es, was es wolle, am ehesten das Leben und das ist jetzt platt und ohne doppelten Boden. Bloß Leben eben, keine Poesie.
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Sonntag, 16. Januar 2011

...

Die Oliven sagst du
das Scheinbare rückwärts erzählt
was ist Bestimmung
und woraus bestehen die Würfel
wenn alles fällt
eine Augenzahl
ein Kern
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Donnerstag, 13. Januar 2011

...

die welt schüttelt ihr häuptchen
gönnt den gewesenen ihr revier
(das ist morgen und gestern)
für die anderen aber
spielt sie klavier
und erwartet ein tänzchen
immer im kreis herum
als sei die welt rund
und am ende von heute
steht der anfang von heute
viel später erst
als gewesene
sieht man wie die welt
ihr häuptchen schüttelte
schon damals
schon immer

von anbeginn
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