Die kurze Geschichte eines langen Lebens
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Auch ich habe sie gesehen
Sagt Sansibar
Die alten die uralten Männer
Wie sie mit Buckeln beschenkt
Am Wasser standen
Die Hände hinter dem Rücken gekreuzt
Die Haut wie Leder
Wie Baumrinden
Verwaiste Wurzeln
Die Augen auf die verbliebene Bewegung gesenkt
Ihre Gedanken
Die einander bei der Hand hielten
In stiller Bewunderung
Weil es ihnen so viele Jahre schon
Gelungen war das Schöne entgleiten zu sehen
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Ich habe einen Freund
Sagt Sansibar
Der schmiedet Verse
Über all die Dinge
Die ihm niemals widerfahren
Er blickt in tiefe Brunnen
Und fragt sie
Nach dem Einklang der Welt
Er bohrt Löcher in den Himmel
Und füllt sie mit seinem Gesicht
Wenn er sehr traurig ist
Schenkt er mir seine Gedichte
Und ich gehe damit zum Brunnen
Nur beten kann ich dann nicht
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Was mir fehlt ist eine Haltung
Sagt Sansibar
Handliche Gedanken
Mit denen ich einordnen kann
Was geschieht
Denn was ist Schuld
Solange man sich nicht dazu bekennt
Und was Freiheit
Wenn man sie sich nicht nimmt?
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99.
Wenn ich die Zeit vergessen könnte
Sagt Sansibar
Und von der Verzweiflung
Bliebe nur der Zweifel
Der aufsteigt
In die lauen Lüfte des April
Ein Scherz auf zwei Beinen
Der sich aus dem Fenster beugt
Und nicht einmal seinem Gott
Etwas verspricht
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24.
Sansibar mag Flüsse
Das Wasser das unter
Der Schneedecke fließt
Wie diese Gedanken die keiner versteht
Als er noch ein Kind war
Hat ein Haus in der Nachbarschaft gebrannt
Die ganze Straße war voller Rauch
Und er stand am Fenster
Und konnte die Flüsse
Immer noch sehen
Fein säuberlich geteilt
Wie seine Gedanken
Und ebenso unaussprechbar
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22
Der Mond
Meine Güte der Mond
Denkt Sansibar
Er wäre gern gelangweilt
Er würde gerne sagen
Kommt denn kein Gedicht
Ohne den Mond aus
In diesem gelangweilten Ton
Tatsächlich aber sieht er aus dem Fenster
Und ist erschrocken
Wie verzweifelt er ihn sucht
Diesen schreiend schimmernden Lumpenhund von Mond
Den er – genau wie alle anderen –
Anheult Nacht für Nacht
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21
Reden wir einmal von mir
Sagt Sansibar
Zum Beispiel wie sich
Meine Finger aufrichten
Bevor ich sie falte
Zum Gebet
Jeder der sich Dinge vorstellen kann
Die es nicht gibt
Kann mich erkennen
Wenn ich in diesem Zustand bin
Bete ich zu Gott
Ohne an ihn zu denken
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Er könnte von sich sprechen
Könnte sagen
Ich bin Sansibar
Ich kann die Tage rückwärts zählen
Und andere von mir erzählen lassen
Solche die behaupten etwas zu verstehen
Von meinem durchsichtigen Leben
Die schreiben können
Das ist die Geschichte des Namenlosen
Er nannte sich Sansibar
Dann lief er davon
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19.
Wenn ich wählen könnte, lieber Gott,
sagt er
bevor er die Augen ganz aufgeschlagen hat
wenn ich wählen könnte
würde ich mich
Sansibar nennen
Einfach so
Ganz ohne Grund
Ich habe genug von der Unruhe
Und von letzten Zügen in denen niemand sitzt
Der auf mich wartet
Jetzt habe ich einen Namen
Das heißt ab heute
Bin ich ein Fluss
In dem sich die Fische niederlassen können
Die Getriebenen lassen wir am Ufer zurück
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18.
Im Laufe des Jahres hat er Eltern bekommen
Eine Familiengeschichte
Und manches über das man nicht spricht
Was für eine leutselige Art
Des Widerspruchs er sich dabei bewahrt hat
Und immer noch ist er ohne Namen
Seine Mutter kennt sich aus mit den Läusen
Auf seiner Kopfhaut
Nicht mit Namen
Wenn sie ihn ruft sagt sie
Mein Sohn
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