Die Frau mit den ausgelöschten Gesichtszügen

Man nahm sie kaum wahr.
Ihre Gesichtszüge waren ausgelöscht.
Nicht von der Zeit. Sie war nicht alt.
Es war etwas Unbedeutendes.
Etwas Unbedeutendes was sich behauptet hatte.
Es hatte sich behauptet und ihre Gesichtszüge ausgelöscht.

Sie legte ihre ausgelöschten Gesichtszüge in seine Hand.
Nicht damit er sie verändern sollte,
von dieser Art Wünschen, war sie längst schon weit entfernt.
Sie fühlte in sich einen Prüfstein der Ewigkeit, den sie einen Moment lang still teilen wollte.

Er war der Mann mit den kleinlichen Händen.
Sie hatte von ihm gelesen.
Sie hatte ihn gesucht.
Dann war sie ihm begegnet.
Sie hatte ihn sofort erkannt.
Er hatte seine Hände in den Manteltaschen verborgen.
Aber das machte nichts. Sie erkannte ihn.
Sie redeten nicht miteinander.
Sie hätten sich nicht verstanden.
Sie sprachen nicht die gleiche Sprache.
(die wenigsten Menschen tun das).
Sie legte ihre ausgelöschten Züge in seine Hände.
Und er hielt es aus.
Das war alles.
435mal gelesen
bess - 22. Mär, 22:24

Das ist ein Text, der mich sehr traurig stimmt.

Etwas Unbedeutendes hat ein Gesicht, ein Leben bestimmt - und alles andere gelöscht.

"Sie legte ihre ausgelöschten Züge in seine Hände.
Und er hielt es aus.
Das war alles."

So schwer ist es zu ertragen, dass jemand zum Beweis gesucht werden muss, dass diese schwere Last der ausgelöschten Züge ertragbar ist. Dass die Frau ein Recht hat, diesen Zustand zu überleben. Denn einer sagt nichts. Hält nur. Hält aus.

Ich möchte ja gern in Worten, die mich so bedrücken, (auch) etwas Positives daraus lesen können.

Es gibt einen Mensch, der das Ich, das kaputtgemacht worden ist, zerstört und gelöscht worden ist (denn was anderes bedeuten unsere Züge als ein Spiegel unseres Ich), für ertragenswert befindet. Für w e r t befindet.

Und dann fällt mir noch ein: ein gelöschtes Gesicht, gelöschte Züge, da ist Leere. Das könnte auch eine Leere für einen Neubeginn sein. Neu formen. Neu beginnen.

Zuhören, hinsehen, etwas mit-tragen, das ist es, was gesucht wird. Im Partner, bei Freunden, beim Mitmenschen. Bei einem übergeordneten Etwas.

Warum, warum steht da noch diese letzte Zeile? Was bestärkt sie, das die beiden Sätze davor nicht schon klar und schmucklos, wie eine *Wahrheit*, einen mathematischen Schluss sagen:

"Sie ihre ausgelöschten Züge in seine Hände.
Und er hielt es aus."

Vielleicht liest es sich so zu erlösungsmäßig, zu neutestamentlich? Und der Zusatz will es aus einer beinah göttlichen Deutung lösen?

Nachdenklich,
Bess

Weberin - 23. Mär, 12:20

Liebe Bess,
es tut mir leid, dass dieser Text auf Sie so trostlos wirkt, für mich ist er das nicht. Ich spüre eine große Gelassenheit und Ruhe in diesem Text, eine Möglichkeit der Annahme und Hingabe, die für mich persönlich sehr tröstlich ist. Und dieser Trost liegt für mich gerade in diesem "nur das." mit dem der Text endet. Es genügt. Es muss nicht immerzu etwas verändert und getan werden, manchmal ist es gut, einfach auszuhalten, was ein anderer teilen möchte.

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