...


Annuschka Blume

Er halte Lesen für eine der größten Glückseligkeiten, hat Jorge Luis Borges einmal geäußert, und natürlich kann man so eine Aussage anzweifeln, man kann sie genau so lange anzweifeln, bis man den Roman Annuschka Blume von Marjana Gaponenko in die Hand nimmt und darin zu lesen beginnt. Zu lesen? Sich darin zu verlieren, sich einfangen und verzaubern, kurz: sich glücklich machen lässt.
Aber versuchen wir sachlich zu bleiben und uns von den nüchternen Tatsachen auf den Boden der Realität zurückziehen zu lassen.
„Das wäre freilich nur wahr“, schreibt Piotr Michailowitsch von seinen Erfahrungen mit einer Troika, „wenn man sich an die Tatsachen hält. Aber wie albern wäre das denn?“

Trotzdem will ich mich kurz beschränken, dem Glück der maßlosen Phantasie entsagen und davon berichten, was in diesem Buch geschieht. Dieses Buch ist ein Briefroman, die Korrespondenz zwischen Anna Konstantionowna Annuschka Blume, die Lehrerin ist, in einem ukrainischen Dorf, wo sie ihre Schüler liebevoll aber nach durchaus sehr eigenen Prinzipien erzieht: „Je unglaubwürdiger die Tatsachen, je absurder der Inhalt, umso besser die Note. Zu einem schüchternen Kind sage ich immer: "Sieh zu, dass du Fehler machst, Kleines" und streichle ihm die Wange. Einem kleinen Intellekturellen mit dicken Brillengläsern sage ich: "Bloß keine harten Tatsachen, Freundchen, sonst bleibst du sitzen!"
Und Piotr Michailowitsch Sie berichtet Piotr Michailowitsch in ihren Briefen vom Dorfleben, von ihrer zusätzlichen Arbeit im Bergwerk, wie sie dem versoffenen Kusmitsch schließlich Wattestiefel kauft, damit er seinen lahmen Hund in einer selbst gebastelten Karre durch einen Winter schieben kann, in dem die Tränen umgehend auf dem Gesicht gefrieren, wenn man die Dummheit begeht, im Freien zu weinen, oder von Goriunowa ihrer einzigen Freundin
Piotr hingegen schreibt ihr von seinen Aufträgen als Visionär, wie er beweisen soll, dass die Steppe und die Berge das Gleiche sind und wie er in eine Burka gehüllt in Bagdad nach einer Möglichkeit sucht einen Meteor aufzuhalten, der auf die Erde zustürzt.
Aber das ist es nicht wirklich, das ist nicht wirklich der Inhalt, weil man ihn nüchtern nicht wiedergeben kann, weil es hier um einen Traum geht und was bleibt übrig von einem Traum, wenn man ihn erzählt?
Außer man heißt Marjana Gaponenko. Und dabei ist es ihr erster Roman. Was kann man da noch erhoffen.
Jedenfalls: nachdem man dieses Buch gelesen hat, weiß man selbst nicht mehr was der Unterschied ist, zwischen Bergen und Steppe, Männern und Frauen, Unglück und Glück. Nur an einen seltsam leeren und nüchternen Zustand kann man sich noch erinnern, an die Zeit bevor man dieses Buch gelesen hat. Also daran, wie albern man gewesen ist, als man sich noch an die Tatsachen gehalten hat.
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