Mittwoch, 9. Februar 2011

80 Jahre wäre er heute geworden

Thomas Bernhard.
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Das Buch von Blanche und Marie – Per Olov Enquist

Blanche schreibt ein gelbes, ein schwarzes und ein rotes Buch, Fragebücher auf der Suche nach dem Wesen der Liebe. Getrieben von der Hoffnung, Antworten zu finden, die beweisen, dass die Liebe alles überwindet.
Marie schreibt Geschichte, weil sie dem blauen Licht folgt. Sie findet, gemeinsam mit ihrem Mann Pierre, die Radioaktivität und nach dessen Tod Radium. Und schließlich eine Liebe, die sie fast zerstört, lange bevor das Radium dieses Werk vollendet.
Per Olov Enquist schreibt das Buch von Blanche und Marie, die dem Licht folgten. Dem blauen und dem der Liebe. „Amor Omnia Vincit“. Das ist die Arbeitshypothese, die Enquist anwendet, um alles zusammenzufügen, um einen Sinn zu finden, die Teile ganz werden zu lassen. Vom Torso ausgehend, die amputierten Teile zurückzuholen, um wenigstens rückblickend ein heiles Ganzes zu schaffen. Und um am Schluss vielleicht zu verstehen.

Blanche und Charcot, Marie und Paul, Blanche und Marie. Die Dinge wiederholen sich, die Geschichte ist immer dieselbe, eine von Leben und Tod und all den Fragen dazwischen. Auf die Antworten gesucht werden, bis nur noch ein Sarg da ist, und eine Hand auf dem Sargdeckel. Und der Satz: Ich weiche nie von deiner Seite.
Das ist der Ausgangspunkt: Blanche Fragebücher und Maries Geschichte. Und die Geschichte des Lichts und der Amputationen. Und wie alles zusammenhängt.
„Zu erklären versuchen, was man versteht, geht nicht,“ schreibt Enquist. Aber als kommentierender, manchmal mit zynischer Distanz scheinbar über den Dingen stehender Erzähler, Aussagen formulieren und dann über jedes einzelne Wort nachdenken, geht sehr gut.
Rein technisch nutzt Enquist mit seinem kommentierenden Erzähler die Möglichkeit, das Verbotene zu tun (sich wie Blanche und Marie über die Regeln der Zeit und Zunft hinweg zu setzen). Er interpretiert seine Sätze, er erläutert sie. Er denkt über seine Figuren nach, stellt sich Fragen über sie und ihre Motive. Nicht hinter den Kulissen, sondern vor den Augen seiner Leser.
Enquist gelingt es durch systematisches Aneinanderreihen scheinbar unzusammenhängender Aussagen und wechselnde Perspektiven, eine einheitliche Geschichte zu erzählen. Zitate aus Blanche Fragebuch (das es wirklich gegeben hat, dessen Zitate jedoch ausschließlich von Enquist erdacht sind) folgen auf eine Geschichte von Marie und Charcot, immer wieder gebrochen durch die Kommentare Enquists. Was entsteht ist eine Geschichte, die vielleicht wahrer ist als die historischen Fakten.
„Legt man alle Geschichten übereinander, wird am Ende alles unsichtbar. Also muss man wählen“, schreibt Enquist. Und zeigt, wie man wählen kann, die Geschichten übereinander zu legen. Indem man den Geschichten den selben Kern zugrunde legt, sie am gleichen Faden aufreiht. Die Amputationen als körperliches Bild bei Charcots Bruder, bei Blanche, die, als sie die Fragebücher schreibt, nur noch ein einarmiger Torso ist, bei Marie, der schließlich innere Organe entfernt werden müssen, und darüber hinaus metaphorisch, als die Amputationen, die aus der ureigenen Geschichte jedes Menschen erwachsen und die zuweilen dazu führen, dass eine große Liebe nicht gelebt wird, dass zwei Menschen das Dunkel erst spät (zu spät?) miteinander teilen.
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