Die Tür

Ich bin grausam. Wenigstens mitleidslos. Wie Schneewittchens Mutter wäre ich in der Lage dem Jäger zu befehlen, mein Kind mit sich zu nehmen und nur mit seinem Herzen in der Hand zurückzukehren. Zum Glück habe ich Söhne. Zum Glück bin ich nicht mehr in dem Alter, in dem man an unvergängliche Schönheit glaubt.
Das mit der Grausamkeit, der Mitleidslosigkeit, ist viel älter, beinahe so alt wie ich und es ist eine Geschichte, die in Märchen selten erzählt wird, eine von einem Kind, das grausam zur eigenen Mutter ist. Das Kind als Täter. Die Mutter das Opfer. Das Kind war ich. Mein Vater lag im Sterben. Ich hatte Angst vor dem Tod, oder sagen wir es so, ich fürchtete den Geruch des Sterbezimmers, die gedämpften völlig veränderten Stimmen in seiner Nähe. Die Anwesenheit meines Vaters verwandelte alles in eine lebendige Abwesenheit. Das war unheimlich. Und je mehr darüber gesprochen wurde, mit Blicken, mit Gesten, mit Bewegungen , um so unheimlicher wurde es. Es war wie in einem Magnetfeld, das alle Bewegungen entschleunigte, das die Lautstärke drosselte, ein Magnetfeld, das die Lebendigkeit herausfilterte und vor der Tür abstellte, eine Seite der Tür war seine Abwesenheit. Die andere war jenseits von ihm. Jenseits von ihm war das Leben. Das war das Problem. Deshalb musste das Leben draußen warten.
Ich war fünf Jahre alt. Ich nahm mein Leben mit in dieses Sterbezimmer. Ich war zu jung, um mein Leben von mir zu trennen und vor der Tür warten zu lassen und die anderen im Raum waren zu alt, um das zu verstehen. Aber schlimmer war, wie mein Leben in blinder Panik durch das Zimmer lief und sich an allen Ecken blutig stieß. Schlimmer war, dass nichts und niemand mein Leben beruhigen konnte.
Niemand und nichts, außer dem Tod. Und als der Tod gekommen war, hatte der Jäger getan, was ich ihm aufgetragen hatte. Er brachte mir das Herz meines Vaters als Versprechen, nie wieder in dieses Sterbezimmer zurückkehren zu müssen. Er brachte mir dieses Versprechen mit einem Telefonanruf bei dem ich nur die Stimme meiner Mutter hörte. Die Stimme meiner Mutter, die in der stets gleichen Tonlage nach unterschiedlich lang bemessenen Pausen, verkündete: „Klaus ist tot.“ Was für mich klang wie: mein Leben ist frei, es muss nicht länger ausgesperrt und eingehegt werden. Natürlich liebte ich meinen Vater, den Mann dessen riesigen Pullover ich beim Wandern als Kleid trug, den Mann mit dem mich meine Mutter während unermüdlich wiederholter Prozessionen traute, weil ich schwor niemals einen anderen zu heiraten, als ihn. Aber diesen Mann gab es schon lange nicht mehr, auf dem Platz an dem er liegen sollte, lag jetzt ich und die Vorhänge verhöhnten mich, dass ich diesen Platz doch niemals würde ausfüllen können. Ach ihr, rief ich, das will ich doch auch nicht. Er ist tot, murmelte ich und die Vorhänge lachten. Also stand ich auf, den abgegriffenen Teddy unter den linken Arm geklemmt und fragte meine Mutter: „Wie geht es Papa?“ Ich stand vor ihr und sie stand vor mir. Es war ein ganz gewöhnlicher Morgen. Sie sah tatsächlich aus wie immer, sie wandte mir ihr Gesicht zu, aber sie sah mich nicht an. Manchmal fragte ich mich, woran sie mich erkannte, so lange hatte sie mich nicht mehr angesehen. Ich musste mich sehr verändert haben, seit sie mich das letzte Mal angesehen hatte. Damals war ich ein Teil der gewünschten Familie. Jetzt würde sie mich völlig neu einordnen müssen. Jetzt gab es das Puzzle nicht mehr, nur noch das übrig gebliebene Teil, mich.
Der Boden unter meinen Füßen war kalt, das graue Telefon auf der Fensterbank schwieg. Es roch nach Kaffee und meine Mutter antwortete mit derselben Stimme, mit der sie die Nachricht am Telefon verbreitet hatte: „Papa ist tot.“ Mein Herz schlug einmal härter als sonst und ließ sich dann lange Zeit bevor es weiterschlug, der Teddy fiel nicht aus meinem Arm, die Welt drehte sich nicht in eine andere Richtung. Meine Mutter nahm mich nicht in den Arm. Ich weinte nicht. Ich weiß nicht, was danach geschah. Vielleicht sind wir beide in unterschiedliche Richtungen aus der Tür gegangen, ohne einander zu berühren, obwohl die Tür eng war.
1053mal gelesen

Aktuelle Beiträge

Ein gesundes, erfolgreiches...
Ein gesundes, erfolgreiches und glückliches Neues Jahr...
die mützenfalterin (Gast) - 4. Jan, 13:05
Schade,
Schade, dass die Xanthippe-Gedichte nun unter Verschluss...
Bess (Gast) - 30. Dez, 14:38
Die Natur des Menschen
Canetti hat die Natur des Menschen auf dem Punkt gebracht....
Susanne Haun (Gast) - 11. Okt, 20:14
Elias Canetti Über den...
"Das Versprechen der Unsterblichkeit genügt, um eine...
Weberin - 11. Okt, 13:25
wie schön. vielen dank....
wie schön. vielen dank. (besonders für die spanische...
Weberin - 21. Aug, 18:44
gedächtnisbruch
der siebte himmel ist ein lichtjahr und aus sägestaub...
M-undpartie (Gast) - 21. Aug, 13:41
Narben
Die verwundete Stille rauscht vorbei meine Weigerung...
Weberin - 21. Aug, 09:59
Und als Fußnote steht...
Und als Fußnote steht da immer der Tod irgendwie ist...
Sofasophia - 13. Aug, 12:14
"Ein hungriger Blick Und...
"Ein hungriger Blick Und hinter den Ohren All das Geschriebene Ausgetriebene Wie...
Bess (Gast) - 10. Aug, 22:51
Zusammen
Ein Stück hartgewordenes Brot Auf der Fensterbank Die...
Weberin - 10. Aug, 18:38

Web Counter-Modul


Suche

 

Status

Online seit 5708 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 4. Jan, 13:05

Credits

Alle Links in Popups öffnen

alle Links auf der aktuellen Seite in einem neuen Fenster öffnen 

Angst
Das lichtscheue Zimmer
Die kurze Geschichte eines langen Lebens
Die Nes Briefe
Ein Mann
Eine Art Tagebuch
es war einmal
Farben
Gesänge
Jede Beschreibung ist falsch
Literaturtage 2010
Literaturtage 2011
November
Orte
Prosa
Rezensionen
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren